Reiner P.: “Ich habe es anders gemacht”

eingestellt am 08.02.2020 von Philine Schlick, Headerbild: "Ich nehme mir jetzt Zeit für mich" - Reiner P.. Foto: Philine Schlick

Von der Wohnung Reiner P.’s, kann man zeitweise den Jahreslauf der Sonne über die Stadt verfolgen. Das Memento-Gespräch mit Reiner ist wie ein historischer Beitrag im Kulturradio: Besonnen, informativ und ausgewogen. Der Bericht eines Johannstädters, der getragen durch Familie und Kirche, durch alle Lebenswehen unerschütterlicher Humanist und Demokrat geblieben ist. 

“Es ist nicht alles ein Erfolg”

Wir haben ja damals sehr lange gearbeitet, sogar noch sonnabends, das habe ich noch erlebt. Also 48 Stunden in der Woche. Und dann in meinem späteren Berufsleben 45, 40 Stunden – und dann nachmittags mal einen Kaffee, das war wohltuend. […] In den letzten Jahren bin ich wenig zum Lesen gekommen, weil ich durch die Pflege meiner Frau sehr eingespannt war. […]

Und da ist eben auch das Lesen zu kurz gekommen und viele andere Wünsche auch. Aber ich habe gehört, dass es Aktivitäten in Johannstadt gibt und sich Menschen bemühen und sich fragen: Wie wollen wir denn diesen Stadtteil mitgestalten? Es fehlt an so vielem, um Leben lohnend zu gestalten und dass es nicht nur einfach geschieht.

Wir haben viele freie Flächen, die gerade zugebaut werden. Es ist nicht alles ein Erfolg. Häuser die Dächer wie Turnhallen haben mit Wellblech … Und am Güntzplatz, habe ich gesehen, ist ein großes Areal entstanden – das ist mir schon zu hoch, zu eng. Die Luft, das Licht gehen verloren. Die große Fläche, wo das Plattenwerk gewesen ist – ich bin gespannt, was da wird. Ich hoffe, es wird nicht zugeklotzt. […]

Ich bin zugereister Johannstädter. Ich bin geboren in Berlin 1940 und kann mich an die Bombenangriffe als Vierjähriger noch erinnern. Meine Mutter musste dann mit uns Kindern Berlin verlassen, Vater war im Krieg, und da sind wir nach Thale im Harz gekommen, wo meine Mutter Geschwister hatte. Wir wollten dann nach dem Krieg nach Berlin zurück, aber das ging nicht, es war dann alles kaputt oder mittlerweile anders genutzt und da sind wir im Harz hängen geblieben. So bin ich in Thale aufgewachsen, habe in Quedlinburg gelernt, in Leipzig und Jena studiert und bin nach dem Studium als junger Ingenieur nach Dresden gekommen, das war ein Wunsch. Und das habe ich auch geschafft.

“Gast für die Dauer des Arbeitsverhältnisses”

Habe dann hier in der Fotoindustrie angefangen, das hat mir gefallen und hier wollte ich bleiben. Ich muss zugeben, dass ich nach dem Studienabschluss gar nicht wusste, was ich wirklich damit anfangen kann. In der Fotoindustrie hatte ich die Chance, mich in dem Betrieb mal ein Vierteljahr umzusehen. Was würde man heute sagen? Volontär, Assistent, Praktikant?

Und nach diesem Vierteljahr, in dem ich von der Marktforschung angefangen, bis zu Entwicklung, Konstruktion, Musterbau,bis zum Einleiten der Produktion, bis zum Versand, Marktstrategien alles mal kennengelernt hatte, da war eine Abteilung, die hat Ausrüstungen für die eigene Industrie hergestellt. Also Maschinen, Anlagen, damit die Fotoindustrie funktioniert und rationell arbeiten kann. Das wollte ich machen!

Reiner P. erklärt die Geschichte seiner Familie. Foto: Philine Schlick

Es wurden Maschinen, Geräte und Ausrüstungen erdacht, als Bedarf empfunden und entwickelt und wir hatten die Aufgabe, das zu konstruieren, zu entwickeln, zu erfinden, wenn man so wollte. Das waren alles Unikate. Dinge, die einmal gebaut wurden und wir haben uns das ausgedacht und das hat mir großen Spaß gemacht! Das habe ich fast 30 Jahre gemacht. So bin ich in Dresden hängengeblieben und hatte eine Arbeitserlaubnis für die Dauer des Aufenthalts. Das gab es also zu DDR-Zeiten auch schon. Und das konnte ich mal umwandeln bei einer Wahlveranstaltung.

Da wurde Werbung gemacht, wie gut es uns hier geht. Damals hatte ich noch eine Berechtigungskarte, bei einem bestimmten Fleischer einzukaufen. […] Als ich gefragt wurde, wie es mir als jungem Ingenieur in Dresden gefällt, habe ich gesagt: „Ich kann hier eigentlich gar nichts dazu sagen, ich bin hier bloß Gast für die Dauer des Arbeitsverhältnisses. Ich gehöre hier gar nicht richtig dazu.“ Was? Das kann doch nicht sein! – Und genau das wollte ich eigentlich. Da wurde das dann gestrichen und dann hatte ich eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung.

Ein Zimmer für mich

Ich habe erst in einem verlassenen Kinderferienlager in Graupa gewohnt ein Vierteljahr. Bin dann von Graupa nach Striesen gefahren mit Fußweg, Bus, Bahn und Fähre – eine gute Stunde ein Arbeitsweg und das Ganze abends wieder zurück. Abends mal Kino oder Theater das ging eigentlich nicht. Dann hatte ich ein Untermietzimmer bei einer liebenswerten alten Dame. Nachdem ich die ganze Wohnung vorgerichtet hatte, auch ihre Zimmer natürlich, nach einem Jahr war sie gestorben.

Nicht wegen des Vorrichtens – sie war also glücklich, dass ich gekommen bin. Man konnte abends mal ein Wort reden, zum Sonnabend hat sie mir ein Mittagessen gemacht, das war ja ganz liebenswürdig. Ja, aber aus der frisch gemachten Wohnung musste ich ausziehen und kam in eine Wohnung als dritte Partei, Hauptmieter mit drei Kindern, ein Untermieter und ich. Fünfzimmerwohnung in Striesen, Ermelstraße […].

Reiner P. nutzt nicht nur Notizzettel, sondern Smartphone, Tablet und PC. Foto: Philine Schlick

Die Untermieter hatten jeweils ein Zimmer und mit dem Hauptmieter gemeinsame Toilette und Bad. Das Bad war schon ein großer Fortschritt, denn von Thale her kannte ich nur den Dreifuß mit der Schüssel. Wie das eben so war, in den 40er und 50er Jahren. Es kam dann schon einmal vor, wenn ich den Badeofen geheizt hatte und dann rein kam, und die Wirtin hatte ihre drei Kinder gebadet, da war das Warmwasser wieder alle. So war das eben. Aber da hatte ich schonmal ein Zimmer für mich.

Dresden ist meine Wunschheimat

1965 habe ich ein zweites Studium als Weiterbildung angefangen in Jena, Fernstudium, berufsbegleitend. Ich habe eine Freundin, wir kannten uns schon eine ganze Weile, haben uns immer mal einen Brief geschrieben, uns mal durch einen Zufall in einem Urlaub getroffen … Dann traf ich sie öfter wieder. Es war eigentlich auch ein Grund, nach Jena zu kommen, um sie wieder öfter zu treffen. Ja. Wir sind enger zueinander gekommen […] und haben geheiratet.

Jetzt sind wir seit über 53 Jahren verheiratet und haben zwei Kinder, eine Tochter-Familie in Dresden mit drei Kindern. Die drei Enkel sind 25, 27 und 30. Und die Sohn-Familie in Stuttgart mit zwei Kindern – ein Schulanfänger und ein Kleinkind. Wir sind in Dresden geblieben. Es ist meine Wahl- und Wunschheimat.

Rainer Pfaff besucht seine Frau täglich. Zu Weihnachten "entführte" er sie aus dem Pflegeheim in die Kreuzkirche. Das Motto: So normal weitermachen wie bisher. Foto: Philine Schlick
Sylvester verbrachte das Ehepaar in der Kreuzkirche. Das Motto: So normal weitermachen wie bisher. Foto: Philine Schlick

Nachdem wir dann zwei Kinder hatten, haben wir in Johannstadt eine Wohnung bekommen, in der Hertelstraße. Aus meinem Untermietzimmer, in das ich alleine eingezogen war, sind wir zu viert ausgezogen. Davon habe ich noch einen Film, einen Fünf-Sechs-Minuten-Film, so habe ich die damaligen Verhältnisse mal festgehalten.

In der Hertelstraße hatten wir dann eine Wohnung für uns, wo wir die Tür hinter uns zumachen konnten. Das war Weihnachten 1968. Da haben wir fast 30 Jahre drin gewohnt. Als die Kinder dann raus waren und die Platten schon zwanzig Jahre standen, da haben wir gesagt, jetzt können wir mal was für uns tun und haben uns für diese Wohnung beworben. Wir hatten damals noch Ofenheizung in der Hertelstraße. […] Jetzt wohnen wir hier 25 Jahre.

Alles war geprägt von Zwängen

Wir sind in der Johannstadt natürlich auch aktiv gewesen. Wir sind hier gut aufgenommen worden. Ich war eine Legislaturperiode mit im Kirchvorstand. Wir haben einen Kleingarten hier gefunden. Der erste an den Elbwiesen, der ist mit der Flut dann untergegangen. Dann haben wir einen neuen gefunden, 800 Meter weiter. „Birkenhain“ gegenüber der Uniklinik, […] sodass wir hier ein Stück weit verwurzelt sind. Ich denke, wir sind in der Zwischenzeit nun auch „Johannstädter“.

Geboren wurde Reiner P. 1940 in Berlin. Nun ist er seit Jahrzehnten Johannstädter. Foto: Philine Schlick

Wir haben einen Freundeskreis, einen Hauskreis, der aus der Gemeinde hervor gegangen ist, wo wir uns immer mal treffen. Zu DDR-Zeiten war das etwas ganz wichtiges nicht nur für Glaubensfragen, sondern weil man im vertrauten Kreis auch mal Klartext reden konnte und nicht den öffentlichen oder offenen Zwängen der sozialistischen Lebensweise ausgesetzt war. Im Arbeitsleben war das ja typisch, dass die Lebensweise ein Stück weit vorgegeben war. Mit Brigadeleben, Veranstaltungen … Es waren auch schöne Sachen. Natürlich haben wir auch Wanderungen gemacht oder mal eine Kaffeerunde.

Aber es war immer geprägt von Zwängen. Maidemonstration, sich vom Kollektiv zu irgendwas bereit erklären. Gut waren Patenschaften mit Schulen. Es wurde aber immer ein Druck ausgeübt. Freie Entscheidung war so gut wie nicht möglich oder es schickte sich nicht. Man musste eben immer mit Konsequenzen rechnen. Ich habe auch nicht immer alles mitgemacht. So war ich auch nicht in der Partei. Man konnte das ablehnen, aber dann war klar: Pfaff, dann bleibst du Schütze Arsch. Und so war es dann auch.

Leben konnten wir. Warm, trocken, sicher, satt – das hatten wir auch. Aber mehr ging eben nicht. Meine Zeit kam später.

Ich wurde hier gebraucht

Ich habe dann später noch ein drittes Studium gemacht in Chemnitz, als die Computertechnik einzog und mir klar wurde, Konstruktion und Steuerungstechnik ohne Computer ist künftig nicht denkbar und habe mit 40 noch einen Fachabschluss gemacht. Das ist noch eine Spezialisierung: „Einfluss der Computertechnik in Konstruktion und Steuerungstechnik“, auch berufsbegleitend als Vater von zwei Kindern. Das habe ich auch geschafft und freue mich drüber. Viele haben gesagt: „Was setzt du dich als 40-Jähriger noch hin? Geh lieber in die Kneipe und gönn‘ dir was.“ Sie hatten auf ihre Weise auch Recht. Aber Menschen dieser Meinung haben später keinen Anschluss in der sich ändernden Gesellschaft gefunden und sind nicht wieder auf die Füße gekommen.

Ich habe neue Arbeit gefunden. Nicht in meinem Beruf, ich musste meinen Beruf leider auch verlassen, weil keine Wirtschaft da war, die mich hätte beschäftigen können, und bin dann als Quereinsteiger in die Verwaltung gegangen, öffentlicher Dienst. Zwanzig Bewerbungen geschrieben und immer wieder Ablehnungen bekommen. Es gab eben auch keine Industrie … War ja alles weg. Ich habe die Fotoindustrie ja selbst mit abgewickelt.

Ich war eine Zeit lang Interessenvertreter, frei gewählter Betriebsrat in der Hoffnung, die Fotoindustrie retten zu können, aber das ging nicht. Es war alles wirtschaftlich am Boden. In Hamburg, Nürnberg oder München hätte ich sofort Arbeit gefunden in meinem Beruf, ich war ja qualifiziert, aber da lebte meine alte Mutter hier noch. Meine Kinder waren hier, vor kurzem noch Halbwüchsige, die flügge geworden waren. Meine Tochter hatte geheiratet, den ersten Enkel zur Welt gebracht … und da war mir klar, ich wollte das Umfeld hier nicht aufgeben – und auch, dass ich hier gebraucht wurde.

Blick in das Wohnzimmer der Pfaffs, Treffpunkt der Familie. Foto: Philine Schlick

Die Kinder sagten dann schon sorgenvoll: „Vater, denkst du denn, dass du hier vor der Haustür noch eine Arbeit findest?“ Ich sage: „Ich versuche es eben.“ […] Als die berufsbezogenen Bewerbungen keine Anhörung fanden, habe ich mich mehr aus Galgenhumor bei einer Landesbehörde beworben – und das habe ich gekriegt. […] Durch die Betriebsrattätigkeit war ich dann schon ein Stückchen bekannt geworden, hab Vorträge gehalten, in sozialethischen Kolloquien oder in Kirchen Fragen gestellt oder habe in der Treuhandanstalt mit verhandelt. Da bin ich bekannt geworden und hatte dann offenbar auch Zuspruch von Kirchen oder Parteien, obwohl ich nie einer Partei angehört habe.

Es gab dann positive Stimmen. Das habe ich alles erst hinterher erfahren. Von der Landeskirche wusste ich, dass ich von der Kirche eine Empfehlung hatte.

[…]

In der DDR war nicht alles Vernunft

Aus dem Bereich gab es vielleicht auch Fürsprecher. Ich habe drei Kirchentage zu DDR-Zeiten mit vorbereitet. Den großen 1983 in Dresden. Da ging es vor allem auch um Umweltfragen – natürlich immer alles streng biblisch orientiert. Es war erstaunlich, was es vor 2000 Jahren schon so alles gegeben hat und wie es dann hier auf die Wirklichkeit passte (lacht).

Wir wussten, dass die Stasi immer dabei ist und haben gelernt, uns so zu äußern, dass sie es eben hören sollen. Ein Beispiel: Wir hatten ein hervorragendes Landeskulturgesetz. Die DDR schon eines. Die BRD noch keins. Das stimmt tatsächlich. Da haben wir gesagt: „Wir haben ein gutes Landeskulturgesetz, da stehen lauter gute Sachen drin. Dass wir die Erde erhalten wollen – das wollen wir Christen auch. Nutzen ja, aber nicht kaputt machen. Und wir verstehen nicht, warum wir aus der Elbe keine Wasserproben nehmen dürfen. Wir wissen, das Wasser ist nicht in Ordnung. Warum ist das nun verboten? Das ist diametral entgegen gesetzt und wir wollen, dass das in Ordnung kommt. […] Warum darf man das nicht prüfen und jemandem mitteilen, der dafür zuständig ist, falls die es vielleicht noch gar nicht gemerkt haben …?“

Rainer Pfaff auf einem Foto mit seiner Frau. Foto: Philine Schlick

Solche Äußerungen waren am nächsten Tag ganz oben. Wenn Sie eine Eingabe gemacht hätten, die hätten die unteren Beamten aufgehalten oder verschwinden lassen. Und so war es ganz schnell oben und das wollten wir! Wir haben Dinge angestoßen, die notwendig waren […]

In der DDR war nicht alles Vernunft. Die DDR hatte gute Ziele, aber die haben es eben nicht gemacht. Und sie sind dann unglaubwürdig geworden. Der Eine durfte reisen, der Andere nicht. Einer kriegte einen Posten, der Andere nicht – auch wenn die Bedingungen alle erfüllt waren. Das hat dann den Volkszorn ausgemacht. […] Die Regierung hatte das alles. Alles, was „böse“ war: Reisemöglichkeiten in fremde Länder, fremde Währung, bessere Schuldbildung, bessere Krankenhäuser, Fernsehen. Staatsnahe hatten Möglichkeiten, die anderen nicht. Das stank dem Volk, bis es auf der Straße stand und sagte: „Wir sind das Volk“. Das war sicher auch ein Effekt der Kirchentage. Es hat dort keine Beschlüsse gegeben, aber die Menschen haben die aufkommenden Fragen mit ins Bett genommen. […]

So wollen wir nicht leben

Es wurde keiner ums Leben gebracht, es wurden keine Häuser angezündet, sondern es gab Blumen für die Polizisten. „Du wirst doch hier nicht auf Arbeiterkinder schießen. Wir wollen leben, wir wollen das aber demokratisch machen. Du gehörst dazu, du musst gucken, dass das alles richtig geht.“ Das haben die Jungs eingesehen. […]

Ich habe auch in Dresden mitdemonstriert. Abends waren wir demonstrieren und morgens wieder pünktlich auf dem Arbeitsplatz. Arbeit musste ja sein. […] Wir sind das Volk und es gibt Dinge, über die müssen wir reden. Dann kamen der Mauerfall und die runden Tische. Das war eine bewegte Zeit. Das hat was verändert. Es war eine Befreiung. Dass wir sagen konnten: Wir müssen miteinander reden, was verändern. Die ersten Gedanken waren ja, den Sozialismus, der ja gute Absichten und Ziele hatte, demokratischer zu machen, transparenter.

Dann entwickelte sich das aber weiter, dass wir uns vereinigen wollten. Weil der Sozialismus, wie er hier gelebt wurde, eben doch nicht lebenstauglich war. Weil es nicht so gemacht wurde. Die Mangelwirtschaft. Dass es monatelang keinen Zement gibt, weil sie Tschernobyl zuschütten mussten. Oder kein Waschmittel, keine Autoersatzteile oder keinen Senf. Wer West-Kontakte hatte, der kriegte das – wer nicht, ging leer aus. Da haben die Leute gesagt, so wollen wir nicht leben. […]

Ich habe mich nicht aussortiert gefühlt

Ein Gespräch mit einem Dialog ist inzwischen leider immer seltener geworden. Es werden Parolen gebrüllt, es werden Häuser angezündet, Menschen umgebracht. Es ist furchtbar. Auch in den Fernsehrunden. Ich habe direkt mal hingeschrieben während einer Sendung von Frank Plasberg, dass es für ältere sehr schwierig ist zuzuhören, wenn in die Gespräche hineingeredet wird und was der Moderator für Möglichkeiten hat, die Sprecher zu bremsen … Es ist sein Job das durchzusetzen, eine Gesprächskultur. […]

Das [die Wiedervereinigung] will niemand rückgängig machen. Aber viele haben ihren Arbeitsplatz verloren und damit einen Lebenssinn, weil der Arbeitsplatz ja auch ein Stück eine soziale Klammer ist, wo man hinkommt, wo man wer ist, wo man was kann und weswegen man geachtet ist und sich auch wohlfühlt, weil man was geschafft hat und seinen Anteil zum Ganzen gibt und sich berechtigt als Mitbürger fühlt. Das ist vielen verloren gegangen, das haben viele nicht verkraftet. Sie sind verletzt, fühlen sich aussortiert und wissen nicht, was sie falsch gemacht haben und leiden da dran. Es hat dramatische Folgen für ihre Lebensplanung wenn ich z.B. an die Mütter und ihre Rente denke …

“Ich nehme mir jetzt Zeit für mich” – Reiner Pfaff. Foto: Philine Schlick

Ich habe es nun anders gemacht. Ich habe nach der zwanzigsten Bewerbung begriffen: Pfaff, du hast hier keine Chance auf dem Weg, du musst was anderes machen. Das war sehr, sehr schwer. Ich habe auch später noch eine Anpassungsqualifizierung gemacht, habe mein Leben lang versucht, mich weiterzubilden und an die Bedürfnisse anzupassen, so weit sie mit meinen übereinstimmen.

Es reicht nicht aus, wenn ich sage, ich habe einmal Schäfer gelernt, ich kann nur das machen. Vielleicht muss ich auch lernen Gänse zu hüten. Oder Wiesenbauer werden – oder sonst was. Weil sich die Bedürfnisse ändern und ich kann nicht auf meinem verharren. Das haben viele nicht so gesehen. Die wollten nur das machen, was sie gut konnten. Hätte ich ja auch gerne gemacht. Aber es war plötzlich nichts mehr gefragt. Aber deswegen habe ich mich nicht aussortiert gefühlt.

Mir war auch klar, ich würde nie arbeitslos werden. Im Markt könnte ich vielleicht Gemüsekistenschleppen – Arbeit gibt es genug. Das sehe ich am Ehrenamt: Da können Sie am Tag 36 Stunden arbeiten. Aufgaben gibt es genug. Und mir war klar: Irgendwas musst du finden. Hauptsache ich kann überleben. Das war mir klar und das habe ich auch gelebt. Das haben viele nicht geschafft und fühlen sich unsicher, sind enttäuscht. Ihre Erwartungen sind nicht erfüllt worden und jetzt wollen sie es dem Staat zeigen.

Mir ist Ausgewogenheit wichtig

Es gibt aber aus meiner Sicht kaum eine bessere Gesellschaft als unsere, wo man solche Fehlentwicklungen korrigieren kann. Und es ist eine Fehlentwicklung, dass so viele zurückgelassen wurden, dass ein Humankapital vergeudet, verschenkt, verschlumpert wird –[…]

Wünschen würde ich mir für die Johannstadt mehr kleine Einkaufsläden. Wenn ich im Aldi einkaufen gehe, ist das wie eine große Lagerhalle. Es gibt niemanden, den ich fragen kann. Beim Konsum ist es schon etwas anderes, auch die Präsentation der Waren. Dort treffe ich Mitarbeiter und kann mich beraten lassen. Mich stört nicht, dass es hier türkische und arabische Läden gibt. Das ist eine Bereicherung, wenn es dazu auch genügend einheimische Geschäfte gibt.

Nach der Wende sind meine Frau und ich viel gereist – nach Italien, Frankreich, Tunesien, die Türkei. Mehrmals. Dort haben wir manch einen getroffen, der war europäischer als hierzulande einer. Mir ist aber Ausgewogenheit wichtig. Es muss alles geben, aber in einem ausgewogenen Verhältnis […] Und dass die letzten Freiflächen in der Johannstadt nicht zugebaut werden. Auf dem alten Plattenwerksgelände könnte vielleicht ein kleiner Park entstehen mit einem Kultur-Café. Es muss Lebensraum für viele Bedürfnisse geben – für Menschen und auch Parkplätze […]

In dieser RBB-Dokumentation kann man den Worten von Herr Pfaff lauschen: Die verschwundene Heimat.

Hinweis der Redaktion: Der im Rahmen des Projektes „Online-Stadtteilmagazin“ erschienene Beitrag wurde nicht von der Landeshauptstadt Dresden bzw. dem Quartiersmanagement erstellt und gibt auch nicht die Meinung der Landeshauptstadt Dresden oder des Quartiersmanagements wieder. Für den Inhalt des Beitrags ist der/die Autor*in verantwortlich.